Über die Gattung der Sirventes-Kanzone äußert sich Diez, Leben und Werke (Vorwort), folgendermaßen: „Sie haben auch Lieder gedichtet, worin die Einheit der Idee durch Beimischung des rein Zufälligen verletzt oder getrübt wird, eine Verirrung, die da, wo der Dichter ohne innere Notwendigkeit plötzlich einen fremdartigen Gegenstand ergreift, recht in die Augen fällt. So ist es denn ein handgreiflicher Verstoß gegen die Regeln der Komposition, wenn Peire Vidal in einer Kanzone seine verliebten Betrachtungen ohne sichtbaren Anlaß unterbricht, um die spanischen Könige zum Kriege gegen die Mauren aufzufordern, und dann seinen eigentlichen Gegenstand wieder aufnimmt. Es gibt aber auch Lieder, worin die Einheit der Idee gänzlich aufgehoben erscheint. Derselbe Peire Vidal trägt kein Bedenken, ein politisches Thema mit der naiven Erklärung: ‘jetzt will ich zu meiner Freundin übergehen’, ganz und gar abzubrechen: besser hätte er zwei Gedichte aus einem gemacht. Allein man hatte von dem Kunstwidrigen solcher Kompositionen so wenig Ahndung, daß man sie sogar unter dem Namen Sirventes-Kanzone als eine eigene Gattung behandelte.” Diese ästhetische Kritik der chanson sirventes ( 1) ist gewiß als zutreffend anzuerkennen ( 2).
Doch weist Vossler ( 3) mit Recht darauf hin, daß trotz der Zwiespältigkeit des Inhalts ein solches Gedicht, als Ganzes betrachtet, dennoch eine Einheit darstellt, die durch Form und Melodie gebildet wird. „Es ist mir nicht gelungen, in den Anfängen und in der Blütezeit des provenzalischen Kunstgesanges ein einziges Lied zu finden, dessen ideelle Einheit mit Bewußtsein oder Absicht durchbrochen und dessen Reime dabei nicht durchgehend wären. Eine Einheit ist also doch vorhanden, wenn auch nur äußerlich, im Strophenbau, im Reim, in der Musik. Dem Trobador aber sind Reim und Musik nichts Äußerliches, sondern oft wohl die Hauptsache gewesen, wogegen das Gedankenmäßige ihm zuweilen nur Anhängsel oder Vorwand war.” In der vorliegenden Sirventes-Kanzone ist sogar versucht, zu der Einheit der Form (und der Melodie) auch eine Harmonie des Inhalts zu gesellen, indem die Geliebte den Verdrießlichkeiten des Alltags bewußt gegenübergestellt wird. Der Dichter meint, der Verfall seiner Kunst zwinge zwar sicherlich zu verzweifelter Resignation – „ mas una flors blanch’e clara mi te alques mon cor franc” (v. 29–30).
Was die Entstehung der eigentümlichen Gattung der Sirventes-Kanzone angeht, so ist auf die interessante Tatsache hinzuweisen, daß sich eine in der Weltliteratur offenbar einzige und daher auffällige Parallele in der spanisch-arabischen Poesie findet. Hierauf macht Zenker, Peire von Auvergne S. 46, Anm. 2 (vgl. auch a. a. O. S. 190, Anm. zu v. 38) aufmerksam, indem er mit Recht die Frage aufwirft, ob in diesem Falle „bei dem Provenzalen nicht eine Nachahmung arabischer Kunstübung vorliegt”. Selbst wenn es sich ergeben sollte, daß der Ursprung der provenzalischen Lyrik nicht in der Nachahmung spanisch-arabischer Dichtung gesucht werden kann, wäre darum eine gelegentliche Beeinflussung provenzalischer Liedkunst durch arabische Vorbilder noch keineswegs ausgeschlossen.
7. Derartig selbstbewußte Äußerungen sind nichts Seltenes in der Trobadorpoesie und entstanden wohl oft nur in Nachahmung einer herrschenden Mode; s. Pätzold, Die individuellen Eigentümlichkeiten S. 17; Zenker, Peire von Auvergne S. 61; Wechßler, Kulturprobl. S. 93–95.
9. vers per chanso. Über die Begriffe Vers und Kanzone vgl. Lowinsky, Zum geistlichen Kunstliede S. 246 ff.; s. auch Zenker, Peire von Auvergne S. 77; Chaytor, Troubadours of Dante S. 125, Anm. zu II, 8; Appel, R. v. Orange S. 33–34). – Lowinsky kommt zu dem sehr einleuchtenden Schluß, daß es sich bei diesen Begriffen um einen Unterschied rein historischer Art handelt, indem beide Bezeichnungen ursprünglich dasselbe bedeuteten, der Begriff Kanzone aber später auf die Lieder von längerer Strophenform mit kunstvollen Melodien (in denen also chanso, die Melodie, wesentlich war) beschränkt wurde, deren Gegenstand das Minnethema bildete. Theoretische Erörterungen über Unterschied von vers und chanso begegnen häufiger bei den Trobadors. Die Definitionen und Vorschriften der Leys und der Doctrina sind erst nachträglich konstruiert. G. Riquier glaubte feststellen zu können, daß der Vers ein Nichtminnelied sei. Daß G. von Calanso diesen Unterschied von der Kanzone nicht kannte, ist ersichtlich, wenn er beabsichtigt „d’un vers far en bella rima” (v. 4), der sich zwar zunächst (Cobla I–IV) mit anderen Dingen als der Liebe befaßt, dann sich aber bewußt diesem Thema zuwendet. – Warum (v. 9) aber der Vers aufgegeben und die Kanzone bevorzugt wird, was der Dichter beklagt, – weshalb er sich des Verses annimmt, das kann uns nicht klar werden, war es vielleicht dem Dichter selber nicht.
ieu no·m planc. Parnasse occitanienschreibt: eu no planc lo dan. Ich glaube, daß hier reflexive Konstruktion von planher vorliegt; Hss. C und E haben: nom, I und R: no mit dem Sigel für m oder n, nur K hat non ausgeschrieben. Se planher mit acc. ist belegt Appel, Chrest 14, 17; 105, 159 (und von Levy SW aufgenommen). – Ich verstehe: da die Gegnerschaft gegen den Vers so allgemein ist, kann ich mich auch nicht beklagen, daß man über ihn herfällt; d. h. da man allgemein die chanso dem vers vorzieht, darf ich mich nicht beklagen, wenn man auch meine Verse tadelt.
10–11. Parn. occ. hat: lo dan qu’a’l cors sobre’l flanc, e’l geinh e l’art e l’escrima (nach IK; auch R hat so). Das ist natürlich sinnlos. Ich fasse corr als 3. sg. praes. von corre auf: corre sobre alcun = „auf jemand losgehen” (Levy SW 7, 699: corre 19).
14. leu vers per entendre. Die „leicht verständlichen” Verse sind der Gegensatz zu „razos cara” und „digz cars”, zu denen sich der Dichter v. 15 bzw. v. 23 bekennt. Vgl. etwa Peire Vidal (ed. Anglade XLI, 3): Farai chanso tal qu’er leus per aprendre; Bern. de la Fon (M. W. III, 338): Leu chansoneta d’entendre (so nach Levy SW 4, 373; Mahn liest: chansonet’ ad entendre); Biogr. von A. Daniel (Crescini, Manuale S. 332): Arnautz Daniels . . . deleitet se en trobar en caras rimas ; per que las soas chanssos non son leus ad entendre ni ad aprendre. Weitere Beispiele bei Bartsch, Reimkunst S. 195–97.
16. ·l clop e li ranc finden sich vereinigt auch bei G. von Borneill (ed. Kolsen Nr. 18, v. 19–21):
E vitz anc greu clop ni ranc,
Si a malpas non trebucha,
Leu n’on posch’avan fugir ?
Ebenso bei Sordel, 2, 15 (zitiert Levy SW, ranc):
E si tot a son cors tort
E magr’ e sec e vel e clop e ranc.
Unser Bild soll die Unbeholfenheit der unberufenen Poeten illustrieren.
17. Parn. occ. hat statt gartz : catz (nach I), was keinen Sinn gibt. Ich lese mit CER: gartz (obl. garson), welches „Knabe, Diener, Knecht” ist (Levy SW 4, 75: garson 1 und 2).
18. razima übersetzt Rayn. Lex. Rom.V, 51 mit vendenge „hält Weinlese”. Levy SW 7, 58 berichtigt „hält Nachlese” (bildlich gesprochen). Wesentlich ist gerade dies in dem Vergleich: die Burschen sammeln nach Beendigung der Mahlzeit unter den Bänken das auf, was von den Tafeln heruntergefallen ist. So nähren sich die unwürdigen Dichterlinge nicht durch eigene poetisch schöpferische Tätigkeit, sondern durch Kopieren und Nachahmen der guten Trobadors.
20. entendedor in allgemeiner Bedeutung: „alle, die sich höfischer Sitte befleißigen” (Bohs, Abrils issi’ Anm. zu v. 1012). In besonderem Sinne nennt man entendedor denjenigen, der von den vier zur Erhörung durch die Geliebte führenden Stufen bis zur dritten gelangt ist. Ein anonymes domnejaire (Archiv 34, 425, v. 108 ff.; ich zitiere nach Dammann, S. 74; der vorletzte Vers fehlt Archiv) erklärt:
E si l retent tan en preian
Qe lh donn cordon, centura, o gan,
O nul son aver pauc ni gran,
A l’entendedor es poiatz.
Der Dichter ist wohl bei seiner Dame noch nicht so weit gekommen, was v. 29 ff. bestätigen; daher der Ausfall gegen die entendedors. Aus seinen Worten spricht der oft wohl konventionelle, häufig sicher aber auch wirklich empfundene Neid auf glücklichere Nebenbuhler. Sie gehören unter den Begriff „ lauzengier” (s. Anm. zu Nr. 5, v. 39), denen hier Mangel an Kunstverständnis oder Heuchelei vorgeworfen wird. ( Vgl. auch Einleitung.)
22. razo wohl = sinnvolle, geistreiche Rede.
23. me remanc. Ich fasse diese Stelle so auf, daß Guiraut sich resigniert entschließt, seine digz cars nicht bekannt zu machen, da ja doch kaum jemand dafür Verständnis und Interesse hat. Er ist kein Sirventesdichter, keine Kampfnatur; er bescheidet sich: „tan son pauc li valedor, qu’om no pot ab totz contendre” und wendet sich dem eigentlichen Feld seiner dichterischen Betätigung zu, indem er nunmehr von Liebe singt. (Wer weiß, ob er nicht vielleicht nur gezwungenermaßen sich an das Thema der ersten vier Coblen gemacht hat?)
29. clara. Parn. occ. hat „blanq’e blara”, obwohl alle Hss. „clara” schreiben. Im Lex. Rom. ist „blar” nicht verzeichnet; nur Levy SW 1, 148 bringt als einzigen Beleg Donatus provincialis 43ª,13: Blars = glaucus („funkelnd, schillernd”); weitere Belege sind mir nicht bekannt. Sinn gäbe also „blara” hier auch, doch weiß ich nicht, woher Parn. occ. es hat (M. W. III, 33 druckt ebenfalls blara mit ab).
30. Bei all diesen betrüblichen Verhältnissen habe ich doch einen Trost, da mich der Gedanke an meine Dame wenigstens etwas froh macht.
31. tot blanc . . . d. h. er will ausharren in ihrem Dienst, bis er weiße Haare hat.
33. Zitiert Rayn. Lex. Rom. II, 257.
35. mais val donar que vendre. Ähnliche Äußerungen finden sich häufig als Anspielung auf die largueza sowohl in eigentlicher wie aufs Erotische übertragener Bedeutung. So sagt G. Figueira (ed. Levy 48, 35):
Be sabetz que segon razo
Lo dons trop atendutz se ven.
(zit. Cnyrim, S. 58, no. 204 c). Vendre ist nur in doppelter Weise im Deutschen wiederzugeben, um den beiden ihm unterliegenden Begriffsinhalten gerecht zu werden: „verkaufen” und „entgelten lassen, büßen lassen” (Levy SW 8, 632: vendre 1 und 6). Mit Rücksicht auf die mitgeteilten Verse des G. Figueira habe ich mich in v. 33 entschieden für „breuges” im Gegensatz zu Parn. occ. „leuges” (nach I), das an sich genau so gut möglich ist.
39. Ich halte die Lesart von CE für inhaltlich besser als die von IK (auch R tren : ten), der Parn. occ. folgt. Gerade der Gedanke, daß die Liebe bis ins Innerste des Herzens dringt und vom Innersten heraus die Läuterung stattfindet, erscheint mir schöner als „me ten ins el cor”, das demgegenüber blasser ist. Es ist genau genommen nicht recht einzusehen und nur aus dem Traditionellen der Trobadordichtung heraus zu erklären, daß der Dichter sich über das schwere Leiden der Liebe beklagt, obwohl es ihn läutert.
42. enpendre halte ich wie Levy SW 2, 388 für gleich emprendre; se e. en „sich legen auf, sich machen an, sich abgeben mit, etwas angreifen, unternehmen” ist sicher der Sinn unserer Stelle. Raynouards (Lex. Rom. III, 115) Übersetzung: „Qu’en autres je ne me puisse élancer” trifft nicht das Richtige; vgl. Levy, der a. a. O. diese Stelle bespricht.
44. dey. Dever dient manchmal zur Umschreibung des Futurs; s. Appel, Chrest., Glossar.
anc. Parn. occ. hat d’anc (IKR), was mir unverständlich ist.
44–45. Identischer Reim. Die Wiederholung von anc soll offenbar das niemals recht stark hervorspringen lassen: nie und nimmer!
46. ·s refrima. Reflexiv gebrauchtes refrimar kann ich nicht weiter belegen, doch scheint es nicht bedenklich, – Dieses Verbum gibt dem Ausdruck eine eindrucksvolle Bildhaftigkeit, die als persönliches Verdienst unseres Dichters gelten darf: Wie der Wald widerhallt von Vogelsang, so des Dichters Herz von Freude und Liebe. – Parn. occ. hat (nach I) refrangima. (Ein Verbum refrangimar existiert nicht. Es mag dem Schreiber Kontamination mit refranher unter Einfluß des Reimes unterlaufen sein.)
48. jogador heißt hier natürlich eindeutig „Spieler”; es bedeutet sonst auch „Schauspieler”; vgl, Strempel, G. de Salignac S. 91, Anm. zu Nr. 1, 5.
49. Spiele aller Art, unter den Glücksspielen besonders das Würfelspiel, waren im Mittelalter sehr verbreitet. (Vgl. A. Schultz, Höf. Leben I, 531 f.). Bei den Trobadors begegnen häufiger Vergleiche, die ihren Inhalt dem Spielwesen entlehnen (vgl. Stössel §331). Der Dichter will alle Chancen an einer Stelle verspielen oder gewinnen, alles auf eine Nummer setzen, – wie es sich für einen guten braven Spieler gehört, im Notfall alles auf einen Wurf ankommen zu lassen und nicht etwa zaghaft zu verzichten, auch wenn er keine Aussicht auf Glück mehr zu haben glaubt. Denn je mehr er verliert, desto mehr kann er auch gewinnen. So sagt G. Faidit, Gr. 167, 56, Cobl. 3 (M. G. 445):
Mas ieu o pert el bon esper
cum selh qu’al jogar si cofon
que jog’ e non pot joc aver
e no sent freg ni fam ni son
tot aissi m’es pujat el fron
et intrat al cor folhamen
qu’ades on plus pert plus aten
cobrar soven tant ai fol sen
el atendre non es res mas foudatz
quar a mon dan sui trop enamoratz.
Wenn unser Dichter dem waghalsigen jogador das Attribut bon beilegt, so möchte man wohl daraus lesen, daß er selbst kein Verächter des Spiels war und bei der praktischen Pflege desselben sicherlich auch „a lei de bon jogador” verfahren ist.
50–51. bon rei d’Arago ist Peter II. von Aragon (1196–1213). Vgl. Reeb, S. 47. Schon Diez, L. u. W. S. 427, neigte dazu, die Stelle auf Peter II. zu beziehen; Milá, S. 137, tut es ohne Bedenken.
Fußnoten:
1) Auch chans mesclatz; s. Diez, Poesie S. 98, Anm. 2. (↑)
2) Vgl. auch Stimming, Prov. Litt. S. 24; Suchier–Birch-Hirschfeld, Franz. Lit. I, 70: „Diese bedauerliche Vermischung der Gattungen”. (↑)
3) Der Trobador Marcabru S. 22. (↑)
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