Der schüchterne Liebhaber.
I. ‚Ach, wie ich mich gräme!’ „Was hast du, Freund?” ‚Ich habe mich getäuscht!’ „Wieso?” ‚Da ich neulich meine Neigung ihr zuwandte, die einen schönen Eindruck auf mich gemacht hat’ „Und deshalb bist du betrübt?” ‚Ja.’ „Solche Liebe hegst du für sie?” ‚Ja, die größte.’ „Bist du also dem Verderben so nahe?” ‚Ja, mehr als ich euch sagen kann.’ „Warum läßt du dich so zu Grunde richten?”
II. ‚Weil ich zu schüchtern und treu bin.’ „Hast du noch nichts von ihr verlangt?” ‚Wahrhaftig nicht!’ „Warum erhebst du also solche Klage, bevor du ihren Sinn erkannt hast?” ‚Herr, ich habe solche Angst’ „Was verursacht sie?” ‚Die Liebe zu ihr, die mich sehr beunruhigt.’ „Ganz mit Unrecht; bildest du dir denn ein, daß sie es dir bringe? (
1)“ ‚Nein, aber ich wage es nicht, mir dazu ein Herz zu fassen.‘ „Dann wirst du wohl sehr darunter zu leiden haben.“
III. ‚Herr, und welchen Entschluß soll man da fassen?‘ „Einen guten und angemessenen.“ ‚So sagt ihn mir dochl!‘ „Du wirst schleunigst vor sie treten und sie um ihre Liebe bitten.“ ‚Und wenn sie es verächtlich aufnimmt?‘ „Verzage nicht!“ ‚Und wenn sie mir häßlich und böse antwortet?“ „Dann sei geduldig; denn wer Geduld hat, siegt immer!“ ‚Und wenn der Eifersüchtige es bemerkt?‘ „Dann werdet ihr (
2) darin schlauer verfahren.“
IV. ‚Wir?‘ „Jawohl.“ ‚Wenn sie es nur wollen möchte!‘ „Das wird geschehen.“ ‚Was?‘ „Wenn du mir folgst.“ ‚So sei es!‘ „Du wirst wohl doppelte Freude haben, wenn du nur beim Sprechen nicht ängstlich bist.“ ‚Herr, furchtbar empfand ich den qualvollen Schmerz, weshalb wir die Angelegenheit gerecht erledigen müssen!‘ „So möge denn dein Verstand und dein Mut dir nützen!“ ‚Ja, und meine gute Hoffnung.‘ „Sieh zu, daß du da gut redest!“
V. ‚Gut reden werde ich gewiß nicht können.‘ „Sage, weshalb?“ ‚Weil ich ihrer ansichtig werde.‘ „Deshalb wirst du also mit ihr nicht sprechen können? So gänzlich bestürzt bist du?“ ‚Ja, wenn ich vor ihr stehe …‘ „Verlierst du die Besinnung?“ ‚Ja, sodaß ich keiner Sache sicher bin.‘ „Das tun alle diejenigen, welche sich von der Minne leiten lassen.“ ‚Ja, aber ich werde mich zusammennehmen!‘ „Nun, so zögere jetzt damit nicht länger!“
VI. ‚Die Minne hat mich in diesen Zustand versetzt — wissen doch alle, daß derjenige schlecht lebt, der vor Sehnsucht vergeht —, weshalb ich mein Herz nicht beklagen kann.‘
VII. „Zu deiner Lust, Freund, gehe, bevor alle es erfahren, hin, damit du nicht deine Zuflucht verlierst; denn leicht läßt man sich sein Glück entgehen!“
Fußnoten:
1) Daß sie dir unaufgefordert Liebe und Liebesfreuden entgegenbringe. (↑)
2) Der Liebhaber und die Geliebte zusammen. (↑)