Die dunkle Dichtweise
I. ‚Jetzt möchte ich gern wissen, Giraut de Bornelh, warum und auf Grund welcher Anschauung Ihr die dunkle Dichtweise tadelt. Saget mir, ob Ihr so sehr schätzet, was für alle gemeinsam ist; denn dann werden alle gleich sein.‘
II. „Herr Linhaure, ich beschwere mich nicht, wenn jeder nach seiner Neigung dichtet; aber, was mich selbst betrifft (
1), so will ich darüber dergestalt urteilen, daß Gesang mehr geliebt und geschätzt ist, wenn man ihn leicht und einfach macht, und legt mir das nicht übel aus!“
III. ‚Giraut, ich will von meinem Dichten nicht soviel Unruhe haben (
2), auf daß man ebenso sehr das Schlechte wie das Gute und das Kleine wie das Große liebe. Von den Toren wird es nie gelobt werden; denn sie verstehen und beachten nicht, was wertvoller ist und mehr gilt.‘
IV. „Linhaure, wenn ich um deswillen wache und meine Kurzweil in Mühe verwandle, so scheint es, daß ich den Beifallslärm scheue (
3)! Wozu dichtet Ihr, wenn es euch nicht gefällt, daß alle möglichen Leute bald Kenntnis davon nehmen? Bringt doch Gesang keinen anderen Vorteil.“
V. ‚Giraut, wenn ich auch nur das Beste bereite und jederzeit sage und vorbringe, mir liegt nicht daran, wenn es sich nicht so sehr verbreitet; war doch Alltägliches niemals ein „Futter für Kenner“ (
4); deshalb schätzt man Gold mehr als Salz, und mit Gesang ist es ganz ebenso.‘
VI. „Linhaure, sehr gut meint es (
5) ein treuer Freund, wenn er widerspricht; ist mir also (
6) mein erhobener (
7) Gesang mehr Mühe wert, so möge ein Heiserer ihn mir immerhin verunstalten und denen schlecht vortragen, welchen ich als ihr Dienstmann nicht etwa einen Tributgesang (
8) schulde (
9)!“
VII. ‚Giraut, beim Himmel und bei der Sonne und bei dem Lichte, das erstrahlt, ich weiß nicht, wovon wir sprechen noch wo ich geboren ward; so verwirrt bin ich, so sehr erfaßt von einer reinen, wahren Freude (
10)! Wenn ich an anderes denke, so ist es mir nicht von Herzen.‘
VIII. „Linhaure, so feindlich zeigt sich mir die (
11), welcher ich huldige, daß ich sagen möchte: «Gott empfehle ich mich!» Welch ein närrischer, vermessener Gedanke hat in mir ungerechten Zweifel aufkommen lassen (
12)! Denke ich denn nicht daran, daß sie mich gräflich machte (
13)?“
IX. ‚Giraut, es tut mir leid, beim heiligen Martial, daß ihr Weihnachten von hier scheidet.‘
X. „Linhaure, ich gehe nämlich alsbald an den königlichen Hof, den herrlichen und trefflichen.“
Fußnoten:
(1) ‚Aber für mich selbst.‘ (↑)
(2) ‚Ich will nicht, daß mein Dichten zu solcher Unruhe werde.‘ (↑)
(3) Wenn ich mich abmühte, um nur für einen kleinen Kreis von Kennern, nicht aber für den großen Haufen zu dichten, würde es scheinen, als verschmähte ich den allgemeinen Beifall ; diesen will ich mir aber gerade erringen. (↑)
(4) ‚Eine Kostbarkeit, ein Leckerbissen.‘ (↑)
(5) ‚Sehr wohlberaten (wohlgesonnen, wohlmeinend) ist ein treuer Freund‘, d.h. ich meine es gut. (↑)
(6) ‚Und darum (sage ich), wenn . . .‘ (↑)
(7) Der „erhobene“ Gesang ist derjenige, welcher mit lauter Stimme gesungen wird, d.h. mit Lust, weil er verständlich ist. (↑)
(8) ‚Davon (von den Gesängen) einen zinsmäßigen.‘ (↑)
(9) ‚Der Mann mit der heiseren, rauhen, ungebildeten Stimme, der gemeine Mann, möge auch mein einfaches Lied singen, so gut er eben kann, aber allein für sich und seinesgleichen. Meinen vornehmen Auftraggebern, meinen Gönnern soll das Lied freilich nur von einem Sänger mit heller, klarer Stimme vorgetragen werden ; dann wird ihnen, den Kennern, diese „alltägliche“ Kost sicherlich ebenfalls zusagen. (↑)
(10) Liebeslust. (↑)
(11) ‚So wendet mir die das Rote (die Vorderseite) des Schildes zu.‘ (↑)
(12) ‚Hat mir entlockt, in mir hervorgerufen.‘ (↑)
(13) Daß sie, die Gräfin, mich in ihren Dienst nahm, mir gestattete, ihr zu huldigen? (↑)